Die Pandemie hat Pläne für eine Pflegereform blockiert. Trotz vieler Debatten sieht Wifo-Forscherin Famira-Mühlberger noch kaum umsetzungsreife Konzepte.

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Viel wird über die Pflegereform diskutiert. Doch folgen den Worten auch Taten? Wer Einblick sucht, ist bei Ulrike Famira-Mühlberger richtig: Die Expertin des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo war Mitglied der vom Sozialministerium einberufenen Pflege-Taskforce.

STANDARD: Zeichnet sich die "Pflegereform aus einem Guss", die der damalige Sozialminister Rudolf Anschober vor 16 Monaten angekündigt hat, ab?

Famira-Mühlberger: Nein. Da wurden in der Kommunikation Erwartungen geschürt, die nicht erfüllbar sind. Es ist ein Kurzschluss zu glauben, wir machen einmal eine Pflegereform, und dann ist die Sache gelaufen. Eine Pflegereform aus einem Guss kann es nicht geben, das ist ein On-Going-Prozess. Die Bandbreite der Probleme und Ideen ist groß – und letztlich müssen die neun Bundesländer mitspielen. Die Taskforce hat den Input eines größeren Beteiligungsprozesses zusammengetragen, umsetzungsreife Konzepte wurden aber keine erstellt. Der politische Prozess hat noch gar nicht stattgefunden.

STANDARD: Ist denn noch gar nichts substanziell weitergegangen?

Famira-Mühlberger: Das Sozialministerium ist gerade dabei, das Projekt der Community-Nurses umzusetzen. Diese sollen pflegebedürftige Personen sowie deren Angehörige nicht nur besser beraten und unterstützen, sondern auch proaktiv arbeiten: Für alle Menschen ab 75 Jahren ist ein präventiver Hausbesuch vorgesehen. Das ist ein guter, wichtiger Ansatz ...

STANDARD: ... aber erst einmal nur ein begrenztes Pilotprojekt.

Famira-Mühlberger: Ja. Im Regierungsprogramm wurden 500 Community-Nurses angekündigt. Tatsächlich werden durch den Next Generation Fund der EU nun 150 solcher Stellen auf drei Jahre finanziert. Weiters gibt es einige Initiativen, um dem Fachkräftemangel im Pflegebereich zu lindern – etwa Umschulungsmaßnahmen durch das Arbeitsmarktservice (AMS) oder den Ausbau des Fachkräftestipendiums.

STANDARD: Führte die Pandemie zu Stillstand in der Reform?

Famira-Mühlberger: Natürlich hat die Pandemie das Pflegethema vorübergehend auf Eis gelegt. Aber das bedeutet nicht, dass die Probleme gelöst wären.

STANDARD: Was ist das dringlichste Problem?

Famira-Mühlberger: Aus meiner Sicht ist das eindeutig der Personalmangel. Organisationen, die Pflegedienstleistungen anbieten, suchen händeringend nach Fachkräften. Wir kennen Berichte aus Pflegeheimen, die Betten nicht vergeben können, weil Personal fehlt. In manchen Häusern ist es ein täglicher Balanceakt, den vorgegebenen Personalschlüssel – maximale Patientenzahl je Pflegekraft – einzuhalten. Auch die mobilen Pflegedienste würden auf der Stelle hunderte Arbeitskräfte aufnehmen. Dabei kommt die große Nachfragesteigerung erst auf uns zu, wenn nach 2030 die Babyboomer-Generation ins hohe Alter kommt. Gleichzeitig müssen wir ab 2023 mit einem Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung rechnen. Wir gehen sehr problematischen Zeiten entgegen.

STANDARD: Was ist an dem Job so aufreibend, dass so viele zurückschrecken oder aussteigen?

Famira-Mühlberger: Laut Umfragen liegt das an den Arbeitsbedingungen. Eine dünne Personalbesetzung erhöht den Arbeitsdruck, was bei Ausfällen durch Krankheiten und Urlaube umso mehr gilt. Der Pflegebereich unterscheidet sich hier von vielen anderen Bereichen: Eine Werkstatt etwa übernimmt bei dünner Personalbesetzung weniger Aufträge oder braucht entsprechend länger; im Pflegebereich ist das nur begrenzt möglich. Was zusätzlich zermürbt: Die Pflegekräfte können den eigenen Qualitätsanspruch aus Zeitmangel einfach nicht einlösen.

STANDARD: Was muss geschehen, um die Personalnot zu bewältigen?

Famira-Mühlberger: Die klassische schulische Ausbildungsschiene reicht nicht, es braucht verstärkt Umschulung- und Weiterbildungsprogramme, um auch ältere Menschen für die Pflege zu schulen. Das passiert jetzt schon, aber hier müssen wir verstärkt Mittel einsetzen. Die Anwärter haben in der Regel finanzielle Verpflichtungen, deshalb müssen die Ausbildungsprogramme auch ein Einkommen bieten – das Fachkräftestipendium ist hier ein guter Ansatz. Rekrutierungen im Ausland sollten vereinfacht werden, Stichwort Nostrifikationen. Und ohne Migration wird die Personalnot nicht zu bewältigen sein.

STANDARD: Gelingt das, wäre die Versorgung in der heutigen Qualität gesichert. Aber braucht es nicht auch einen Ausbau der Leistungen, damit die Menschen – so der Wunsch der Mehrheit – ihren Lebensabend zu Hause statt im Heim verbringen können?

Famira-Mühlberger: Derzeit sind viele Menschen, die noch gut zu Hause gepflegt werden könnten, auf die stationäre Pflege in den Heimen angewiesen, weil es an flexibler Unterstützung fehlt. Erstens kämpft auch die mobile Pflege, die Menschen in den eigenen vier Wänden besucht, mit enormen Personalproblemen, zweitens gewähren die Länder nur einen gewissen Satz an Pflegestunden. Ist dieses Kontingent ausgeschöpft, fällt die Förderung weg – und dann wird es für viele zu teuer.

STANDARD: Ist mobile Pflege für die meisten zumindest leistbar, solange diese gefördert wird?

Famira-Mühlberger: Auch da gibt es offenbar Hürden. Über 40 Prozent der Pflegegeldbezieher beziehen keine Pflegedienstleistung. Daran sieht man, dass die mobile Pflege nicht in dem Ausmaß genützt wird, wie es vielleicht vernünftig wäre. Denn so ließe sich der Eintritt in die Heime – die für die Allgemeinheit teuerste Variante – eindämmen. Das kann an Informationsmangel liegen, aber auch an den Kosten.

STANDARD: Was, wenn sich die Politik wieder darauf verlässt, dass bei der Pflegearbeit die Familien – und da in erster Linie die Frauen – einspringen?

Famira-Mühlberger: Ja, diese Gefahr besteht. Aber Frauen werden aufgrund der enorm gestiegenen Bildungsabschlüsse in Zukunft noch stärker als heute am Arbeitsmarkt tätig sein, was aus ökonomischer Perspektive wichtig ist. Wegen des Rückgangs der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter müssen wir unser Arbeitskräftepotenzial besser nützen, und natürlich würde das die Gleichstellung fördern. Das wird die Nachfrage nach professioneller Pflege steigen lassen.

STANDARD: Vergeudet Österreich dieses Potenzial derzeit?

Famira-Mühlberger: Wir investieren viel in gute Ausbildung. Mittlerweile weisen Frauen höhere Bildungsabschlüsse als Männer auf. Wenn diese gut ausgebildeten Frauen durch Pflegearbeit vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, ergibt das ökonomisch keinen Sinn. Vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in den Niederlanden, ist das anders. Dort wird Pflege zu einem geringen Anteil in der Familie, sondern viel mehr professionell geleistet. Dafür muss der Staat aber investieren: Gemessen an der Wirtschaftsleistung geben diese Länder heute schon so viel für Pflege aus, wie das Wifo in Österreich für 2050 prognostiziert. (Gerald John, 7.2.2022)